
Der Preis des Widerstands
Der Geruch war unverkennbar. Es war kein Blut, sondern etwas Schweres, Bitteres. Adrenalin, Wut, Schweiß – das dunkle Gemisch, das Rex seit Jahren mit dem Polizisten verband, dem er gehorchen musste. Ein Geruch, der ihn immer wieder zutiefst verunsicherte.
Das Halsband schnitt in seine Kehle. Seine Hinterbeine rutschten, suchten Halt auf dem Asphalt, während der Polizist durch die Gegend zerrte. „Fass!“ brüllte der Mann, seine Stimme ein schneidendes Echo. Sein Hundeführer drückte ihn mit der Schnauze gegen den Arm des Gegenüber. Rex spürte den Schmerz, die zugeschnürte Kehle, doch er biss nicht zu. Sein Blick fiel auf den Mann vor ihm – den Demonstranten. Die Arme des Mannes waren erhoben, seine Bewegungen langsam, vorsichtig. Er bewegte sich rückwärts. Kein Angriff. Rex nahm den Geruch auf: Angst, aber keine Bedrohung.
Ein plötzlicher Laut hinter ihm – ein drohendes Knurren – ließ Rex kurz umblicken. Der andere Hund hatte gebissen. Einen der Polizisten. So panisch, so unsicher, so gestresst war er gewesen, sein tierischer Freund. Rex schaute schnell weg, er wollte nicht sehen, was nun folgte. Ein dumpfer Ton. Rex wusste auch so, was passiert war. Das, was immer passierte, wenn sie nicht gehorchten, wenn sie zu verwirrt waren, um zu verstehen, was von ihnen gewollt wurde. Dabei war das doch nicht ihre Schuld, niemand hatte es ihnen jemals beigebracht! Und niemand konnte von ihnen erwarten, anzugreifen, wenn das Gegenüber nicht bedrohlich war!
„Fass, verdammt nochmal!“ Der Griff an seinem Halsband wurde noch fester, drückte seine Kehle noch enger zusammen. Seine Schnauze wurde gegen empfindliche Teile des Körpers des Demonstranten gedrückt, dorthin sollte er beißen. Rex spürte die Hitze des Hundeführers, roch seinen beißenden Schweiß, seine fast tierische Wut. Der Befehl erreichte das Zentrum in seinem Gehirn, in dem sich der Gehorsam befand. Doch sein Körper reagierte nicht. Von den anderen gab es keinen Angriff, sein Polizist wollte einfach dominieren, wollte nur seine Macht über den anderen zeigen. Wie so oft. Doch das war nicht richtig, mit all dem Hass, der fehlenden Kontrolle, der Unfähigkeit, nachzudenken, hatte er nichts von dem, was es brauchte, um eine Herde zu führen.
Rex‘ Muskeln zitterten unter der Anspannung, doch er blieb stehen. Nicht aus Trotz. Sondern aus Instinkt. Der Mann vor ihm war kein Feind.
Dies war sein erster und einziger Aufstand. Der Mensch hatte ihm beigebracht, zu gehorchen, zu kämpfen, zu verletzen. Doch sie hatten seinen Geruchssinn, seinen Instinkt, seine Seele ignoriert.
Und in diesem Moment des Widerstands, mit brennendem Hals und pochendem Herzen, erkannte Rex die wahre Bedeutung von Angst. Nicht die Angst vor Schmerz oder Tod, sondern die permanente Angst vor dem Menschen, der ihn besaß. Zu dem er sein Leben lang gehören würde, ob er wollte oder nicht. Doch er erkannte noch etwas anderes: Die Bedeutung von Würde.
Der Polizist packte ihn noch fester. Plötzlich schleuderte er ihn herum. Mit einem dumpfen Knall knallte Rex‘ Hüfte gegen die Leitplanke. Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper. Fast verlor er das Bewusstsein. Er hielt durch. Er biss nicht zu. Er blieb standhaft. Der Mensch, der ihm befahl, schrie und tobte. Tropfen von Schweiß und Spucke trafen Rex. Er schüttelte sich.
Die Angst vor dem Hundeführer überwältigte ihn immer noch. Aber Rex wusste, dass er richtig gehandelt hatte. Sein Körper nahm nichts mehr wahr, doch sein Herz war plötzlich voll von etwas, das er bisher nicht gekannt hatte: Stolz. Anders als der Mensch hatte er erkannt, was richtig war. Und dieses Gefühl war stärker als alle Schmerzen, alle Angst vor dem, was ihn erwartete.
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Später, in der Dunkelheit des Transporters, war es still. Der andere Hund lag regungslos in der Ecke, seine Atmung flach. Rex wusste, dass er etwas Unwiderrufliches getan hatte. Er hatte sich verweigert. Und nun war er allein, von seinem Freund war keine Unterstützung zu erwarten. Niemand würde ihn in Zukunft unterstützen, auf ihn wartete nur: Der Polizist. Niemand sah ihn, niemand würde etwas über ihn erfahren. Er verschwand aus dem Sichtfeld der Welt.
Die Männer vorne sprachen miteinander.
„Das Video geht viral, du Idiot“ sagte einer. „Du weißt doch: Wenn gefilmt wird, dann halten wir uns zurück! Was hast du dir nur dabei gedacht, Mann.“
„Ach jetzt übertreib nicht, was soll mir denn passieren. Eine Krähe kratzt der anderen… Du weißt schon. In zwei Wochen haben das alle wieder vergessen, und vom Chef krieg ich eher ne Belobigung… Aber wir müssen eine Lösung für die Töle finden. Ein Hund, der mir nicht gehorcht – das lass ich mir nicht bieten! Der muss weg. Und zwar auf Nimmerwiederfinden. Dann haben diese linksgrün-versifften Asozialen auch keine Beweise für irgendwas.“
„Einschläfern? Rex?“ Jetzt schluckte sogar der andere Polizist. Doch er sprach nicht weiter.
Rex verstand die Worte nicht, aber er verstand den Ton. Er drückte sich in die Ecke des Transporters, seine Ohren zuckten bei jedem Geräusch. Der Schmerz in seinem Hals war fast verschwunden, das Pochen der Hüfte konnte er vielleicht aushalten, doch nun kroch die Angst erneut durch seinen Körper. Die Dunkelheit um ihn herum schien immer schwärzer zu werden. Dann aber dachte er an den Geruch des Demonstranten, an die Ruhe, die von ihm und den Menschen um ihn herum ausging, an die Wärme, die ihm kurz Hoffnung gegeben hatte. Diese Erinnerung trug er im Herzen, bis zu dem Moment, als es nur noch Dunkelheit gab.