

Das Zeichen der vier Pfoten
Eine Geschichte von Susanne Beck und Verena Beck
Kleine, dunkle Häuser drängten sich am Rand der regennassen Straße. Herrchen und ich stolperten mühsam voran, über zahlreiche lose Steine. Mit jedem Schritt wurde mein Atem schwerer. So oft ließ er mich bei Misses H, wo ich den Tag im Körbchen unter dem Küchentisch verschlafen konnte. Ausgerechnet heute, in dieser grauen, regnerischen Nacht, musste er mich mitnehmen.
Es roch merkwürdig, sogar für meine Nase. Zwar traf ich nicht oft andere Hunde, aber ich hatte verstanden, dass sie alle einen besseren Geruchssinn als die Zweibeiner besaßen. Während ich oft sogar später als Misses H bemerkte, wenn Herrchen heimkam. Leider hatte ich keine gute Hundenase. Aber da Misses H trotzdem oft zu mir sagte, dass ich ein guter Junge sei, war es nicht so schlimm.
Hier allerdings waren die Markierungen in allen Ecken und an jeder Mauer der Gasse so stark, dass sogar ich es roch. Die meisten von einem einzelnen Artgenossen, nach seiner Duftmarke etwas älter als ich, stark und gesund.
Aber sogar diese starken Markierungen wurden überlagert. Mit jedem Schritt verstand ich besser, wonach es noch roch: Blut. Tod. Verwesung. Andere Gerüche, die ich nicht kannte und mir unheimlich waren. Ich wollte nicht weiterlaufen, stemmte meine Pfoten in die Straße und senkte meinen Rücken ab. Schimpfend und fluchend zog Herrchen mich weiter.
„Ich will auch nicht hier sein, Gladstone. Es muss sein.“
Immer intensiver wurde der Geruch. Viele tote Wesen verschiedener Arten. Ich erhaschte einen Blick ins Fenster, dank des orangen Lichts konnte ich die Wesen darin erkennen: Ein erstarrter roter Felljäger hatte den Schwanz aufgestellt und blickte mich an – und doch auch nicht, denn die Augen waren stumpf. Daneben ein Flattertier, im Flug eingefroren. Ein Exemplar der Tiere mit dem wuscheligen Schwanz, die auf Bäume flohen und bei denen ich nie sicher war, ob ich sie fressen oder zum Freund haben wollte.
Nun verstand ich: Ich wurde in die Hölle gebracht. Sherlock hatte davon erzählt: ein unwirtlicher Ort der Bestrafung und ewigen Verdammnis. Ein Ort an den er nicht glauben würde, hatte er gemeint, aber das war für mein kleines Hundegehirn zu kompliziert. Es hatte außerdem geklungen als wäre es ein Ort ohne Schinken und Streicheleinheiten, an dem ich ohne meine Menschen leben müsste, und vor allem hatte es weiter weg geklungen als in irgendeiner Nebengasse dieses abgehalfterten Teils von Lambeth.
Wie gern hätte ich Rudelführer in diesem Moment zu gebellt: ‚Es gibt sie doch, die Hölle!‘ Denn hier war er, dieser Ort, und mein Herrchen führte mich geradewegs dorthin. Ängstlich blickte ich zu ihm auf, doch er roch nicht nach Angst und ging weiter, also folgte ich ihm widerwillig.
Bei der Hölle angekommen, klopfte Herrchen an ein Fenster. Immer mehr bewegungslose Wesen blickten mich von dort drinnen an. Es schüttelte mich in alle Richtungen und ich rutschte näher an Herrchen heran. Nach einer Weile erschien ein Zweibeiner, der ungesund roch, an der Scheibe.
„Hau ab, du besoffener Penner“, rief der kranke Zweibeiner. „Sonst hetze ich dir dreiundvierzig Hunde auf den Hals!“
Dreiund... Ich wusste, dass das so viele Hunde waren, dass ich es nicht zählen konnte. Vielleicht weil ich überhaupt nicht zählen konnte. Aber das waren bestimmt mehr Hunde, als ich je in meinem Leben gesehen hatte. Doch den Mund von Herrchen umspielte ein Lächeln. Seit vor ein paar Tagen die junge Frau bei uns erschienen war, die so gut Ohren kraulen konnte, lächelte er immerzu. Wenn er auch hier lächelte, drohte wohl kein Angriff. Und wenn hinter der Höllentür so viele Hunde warteten, hätte sogar ich das erschnüffelt. Oder gehört, meine Ohren waren nämlich sehr gut.
„Dr. Watson mein Name. Und einen Hund habe ich schon, ich brauche nur noch einen weiteren“, antwortete Herrchen. Dann bellten sich die Zweibeiner eine Weile an, doch was sie jaulten und knurrten interessierte mich nicht mehr. Nur weil wir die meisten ihrer Worte verstehen können, heißt das nicht, das sie uns interessieren. Also träumte ich von Schinken, bis Herrchen den Rudelführer erwähnte. Sofort duckte sich der andere Zweibeiner in die Unterwerfen-Position seiner Spezies.
„Die Freunde von Sherlock Holmes sind auch meine Freunde.“
Er öffnete die Tür und ließ Herrchen hinein. Ich wurde hinterhergezogen, aber ich hatte mich entschieden: Ich wollte nicht in die Hölle, Lächeln hin, Freunde von Rudelführer her. So leicht wurde Herrchen mich nicht los. Denn so wie ich das verstanden hatte, konnte man die Hölle, einmal betreten, nicht mehr verlassen. Also stemmte ich mich mit meiner ganzen Kraft in den Boden. Herrchen zog an. Ich hielt dagegen. Herrchen zog fester. Ich hielt dagegen. Die Leine krachte. Herrchen gab auf. Ich stolperte einige Meter rückwärts und landete auf dem Hinterteil. Herrchen schwankte, konnte sich aber fangen. Mühsam stand ich auf.
„Dann warte hier, Gladstone, ich bin gleich zurück. Sitz!“
Mein Hinterteil landete ganz von selbst wieder auf dem Boden nach dem Befehl. Konditionierung, sagte Rudelführer dann immer. Ich bin mir nicht sicher was er damit meint. Ich bin gerne freundlich und tue den beiden jeden Gefallen. Heißt nicht, dass ich das muss. Bevor ich mich wieder sortiert hatte, fiel die Tür zur Hölle hinter Herrchen zu, und ich war plötzlich nicht mehr so überzeugt, dass es so eine gute Idee war, hier alleine zurückzubleiben. Was wenn auch Herrchen die Hölle nicht mehr verlassen konnte?
Im Umkreis konnte ich mehrere Zwei- und Vierbeiner erlauschen, die nach Beute oder paarungswilligen Artgenossen suchten. Bestimmt waren Ratten dabei! Ich hörte schon das Tappen und Kruscheln. Mich schauderte. Die fand ich besonders gruselig. Insbesondere seit einer Begegnung mit ihrem Anführer, Moriratty. Wieder schüttelte ich mich. Bloß nicht daran denken – das Zusammentreffen war schmerzhaft gewesen. Tatsächlich sah ich aus dem Augenwinkel, wie ein langer nackter Schwanz hinter der Ecke verschwand. Das war ein massives Exemplar. Herrchen war nicht da, also war die Wirkung des ‚Sitz!‘ geschmälert und ich verkroch mich unter der Treppe zur Hölle. Immer weiter bewegte ich mich rückwärts zur Wand, bis es sich eng um mein Hinterteil herum anfühlte. Zu eng. Also versuchte ich, mich wieder nach vorne zu bewegen. Oh nein - ich steckte fest! Misses H und ihr Frühstücksspeck! Ausatmen, möglichst viel Luft herauspressen. Nach vorne ziehen, ein Zentimeter, ganz leicht. Noch ein wenig. Und noch etwas.
Pflop! Und schon hatte ich mich befreit. Ich schüttelte den hinteren Bereich meines in Falten gelegten Körpers nach links und rechts und schaute mich nach dem Fellwesen mit langem nacktem Schwanz um, das sich als Beute tarnte, tatsächlich aber zweifellos ein Jäger war. Verschwunden. Zum Glück hatten mich auch keine Artgenossen beobachtet. Man konnte vor Ratten Angst zu haben, aber dass ich mich so anstellte, das musste niemand mitbekommen.
In dem Moment öffnete sich die Tür zur Hölle. Heraus trat ein Hund. Und was für ein Hund! Ein Höllenhund! Groß und stolz sprang er die Stufen herunter und sein Geruch überlagerte sofort die Gerüche nach Verwesung und nach Rattenwesen. Stark und fähig sah er aus. Das musste er auch sein, konnte er doch die Hölle ohne Probleme verlassen.
Herrchen folgte ihm mit skeptischem Blick auf den Hund. Zu dem Höllenwächter rief er beim Rausgehen:
„Dieser fleckige, watschelnde Lurcher mit den hängenden Ohren soll der Hund sein, der uns helfen kann?“
Er schien nicht dasselbe zu riechen, wie ich, denn ich würde nie wagen, diesen Hund derart argwöhnisch anzuschauen. Sein Auftreten ließ keine Zweifel zu.
„Toby ist zur Hälfte Spaniel!“, antwortete der Wächter.
Toby hieß er also, der Hund, der ohne auf einen Befehl eines Zweibeiners zu warten, einfach losmarschierte. Mich nahm er nicht zur Kenntnis. Herrchen lief hinterher. Der Wächter und die anderen Tiere blieben zurück. Ich folgte Herrchen, der mich gar nicht bemerkte.
Toby wackelte mit allen vier Beinen hin und her und sein Kopf war die ganze Zeit leicht schräg nach unten gerichtet. Ich beobachtete die Bewegungen genau, während ich ihm und Herrchen folgte. Warum lief Toby nur so ungewöhnlich?
Dann verstand es. Seine Pfoten wirbelten Staub vom Boden auf. Sein Fell bewegte die Luft. Seine Nase hielt er mitten in diese Luftbewegung. So konnte er alle Gerüche aufnehmen, ohne stehenbleiben und schnüffeln zu müssen. Beeindruckend!
Herrchen stoppte eine Kutsche. Schon wieder. Erst die Hölle und jetzt noch das Folterwerkzeug. Die Kutsche hielt, der Kutscher blickte verächtlich zu Toby und mir.
„Dreck in meiner Kutsche machen Sie weg oder zahlen extra.“
Aber entgegen meiner Hoffnung, dieser Fortbewegungsart entgehen zu können, nickte Herrchen und öffnete die Tür. Er beugte sich zu mir und hob mich an. Das Ruckeln und Hin-und-Her-Fallen in Kutschen hasste ich so sehr, dass ich nicht anders konnte, als mich zu wehren. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Beine, als er versuchte mich hinein zu bugsieren. Ich strampelte, mein Kopf bewegte sich weg, ich wand mich und versuchte mit aller Kraft, seinem Griff zu entkommen. Und das vor dem eindrucksvollen Höllenhund. Doch Herrchen kannte das Theater und schob mich Zentimeter für Zentimeter in die Kutsche. Wie jedes Mal war das letzte Stück besonders demütigend. Herrchen stemmte sich mit der Schulter gegen mein Hinterteil und schob mich weiter. Der stille Kampf dauerte einige Sekunden und, auch wie immer: Er gewann. Ich landete in der Kutsche. Sobald ich im Innenraum war, fügte ich mich in mein Schicksal und legte mich zwischen den Sitzbänken ab.
Herrchen drehte sich zu Toby um, rieb sich, offensichtlich in Vorbereitung für den nächsten Kampf, die Hände. Toby blickte zu Herrchen, zur Kutsche und sprang dann die Stufen hinauf in den Innenraum. Wie peinlich war das denn. Ich machte mich noch kleiner und rutschte zur Seite, so dass Toby sich absetzten konnte. Er blickte sich nicht zu meinem Herrchen um und das begeisterte „Fein“, dass Herrchen ausrief, während er selbst die Stufen erklomm, ignorierte er. Als wäre er nicht für einen Zweibeiner, sondern aus eigener Entscheidung in dieser Kutsche gesprungen.
Die Fahrt dauerte Tage! So zumindest fühlte es sich an. Toby saß entspannt auf dem wackelnden Kutschenboden und blickte aus dem Fenster. Dafür war ich zu klein.
Als wir stehen blieben, sprang Toby die Stufen herab und hielt seine Nase in die Luft. Er drehte sich in alle Richtungen. Erst als der Rudelführer direkt vor ihm stand, hörte Toby mit den Bewegungen auf.
„Danke, Watson“, wandte sich Sherlock an Herrchen, ohne den Blick von Toby abzuwenden. „Der beste Hund in ganz London. Na dann wollen wir mal loslegen.“
Dieser Satz verletzte mich schon ein wenig. Ich zog mich an den Rand der Gruppe zurück und beobachtete, wie Sherlock und Toby sich an die Arbeit machten. Zum Glück war auch die junge Frau dabei, die Herrchen so zum Strahlen brachte, Mary hieß sie. Sie entdeckte mich und kraulte mich hinter den Ohren. Da musste ich auch strahlen.
„Müsst Ihr euch in Gefahr bringen, nur um den mysteriösen Agra-Schatz zu retten? Selbst wenn Small ihn mir gestohlen hat – ist es das wirklich wert?“ sprach Mary mit Herrchen. Der plusterte sich auf, streckte die Brust raus, wie einer dieser Tierpark-Vögel mit gespreizten bunten Schwänzen.
„Das sind wir gewohnt, machen Sie sich keine Sorgen um uns! Nur Ihnen steht der Agra-Schatz zu, Mary, und wir werden alles dafür tun, dass Sie ihn zurückerhalten!“
Peinlich, sich so aufzuspielen beim Balztanz, das wusste sogar ich, obwohl ich nie Hündinnen traf. Aber Mary lächelte Herrchen trotzdem an. Sie musste ihn sehr mögen.
„Reichtum macht nicht unbedingt glücklich, Dr. Watson. Schöne Momente und Erinnerungen sind doch viel wichtiger.“
Rudelführer zog Handschuhe an und nahm ein Taschentuch von einem hinter ihm stehenden Zweibeiner entgegen. Er beugte sich zu Toby und präsentierte ihm das Tuch. Toby senkte seine Schnauze und nahm den Geruch auf. Vorsichtig schlich ich mich an. Zwei Meter vor Toby roch ich es auch. Sehr intensiv. Wie schwarzer Teer, aber irgendwie lecker.
„Gut, dass wir dieses Kreosot-Tuch gefunden haben“, sagte Sherlock. „Du findest die Spur auch jetzt noch, oder?“
Toby blickte erwartungsvoll zu ihm auf. Ein leichtes Nicken, und Toby lief los. Er lief schnell, er blieb nicht stehen, er folgte unbeirrbar der Spur. So schnell ich konnte, lief ich hinterher. Sollten doch die Zweibeiner schauen wo sie blieben, jetzt konnte ich mich mal beweisen.
Ich versuchte, direkt hinter ihm zu laufen und auch so viel wie möglich von der Spur aufzunehmen, um ihn zu unterstützen – aber es waren zu viele Gerüche, anfänglich war meine kleine Nase überwältigt von den fremden Spuren der fast ländlichen Umgebung und dann von den vertrauten aber doch unmöglich vielen Spuren des Londoner Alltags. Eine einzelne Spur zu isolieren erschien mir immer noch unmöglich, obwohl ich Toby genau dabei beobachtete.
Die wenigen Zentimeter Abstand waren zu wenig. Jedenfalls in dem Moment, in dem Toby plötzlich stehen blieb und ich mit Schwung auf ihn rannte und ihn dabei ins Schwanken brachte. Ein kurzes Knurren war die Antwort, kurz, aber tief und deutlich. Eine klare Warnung. Ich vergrößerte den Abstand wieder und fragte: „Was ist los?“
Toby schüttelte den Kopf und senkte seine Schnauze. Wir standen direkt vor einem der zahlreichen Häuser, die nach Bier, Rauch und Schweiß rochen. Kein Wunder, dass er nun die Spur verloren hatte, die Gerüche waren zu intensiv, die mussten auch den besten Hund Londons verwirren.
Wieder schnüffelte Toby nach links und rechts. Ich wartete.
„Riech mal hier“, forderte er mich dann auf. Er wollte meine Unterstützung! Aufgeregt roch ich erst rechts, dann links. An der ersten Stelle roch es intensiv nach Misses H’s Schrank und links fand ich den erdigen teerigen Geruch von vorhin. Der sich in den Schrankgeruch verwandeln konnte, das roch jeder Hund in London täglich. Ich runzelte meine Stirn, was bei meinem Gesichtsausdruck aber keinen Unterschied machte. Und versuchte die Spuren zu isolieren. Der linke Geruch hatte außerdem eine Färbung von Bier, Rauch und Schweiß eingenommen.
„Genauso riecht Herrchen, wenn er aus dem Pub kommt“, sagte ich begeistert. Meine Nase hatte etwas festgestellt. Ein bisschen stolz war ich schon, dass ich nicht ein ganz unfähiger Hund war. Ob Toby mir zuhörte, konnte ich nicht sagen. Er lief zwischen den Stellen hin und her, schnüffelte hier, schnüffelte dort. Lief den Weg einige Meter zurück. Dabei knurrte und grummelte er vor sich hin.
„Mehrere Stunden, Wind kam von Südwesten. Vor drei Stunden leichter Regen.“ Immer vertiefter rannte er hin und her, drehte sich im Kreis. Ich machte mir Sorgen.
„Ist es vielleicht doch zu lange her, um die Spur erkennen zu können?“, versuchte ich zu helfen. Er blaffte mich an.
„Zu lange her? Zeit ist als Faktor unberechenbar. Aber ändert das die Struktur des Geruchs? Nein: Unter Einbeziehung menschlicher Angewohnheiten erfolgt die Einberechnung der Ereignisse der letzten Stunden und die typischen Vorkommnisse an einer solche Ecke. Rauch und Teer und Alkohol. Dann kommt man dazu, dass die Spur mit dem identischen Verhältnis von Kreosot und Umgebungsgerüchen nach rechts weiterführt. Abgerechnet die vielen Einflüsse torkelnder und vor allem markierender Menschen.“
Ich nickte interessiert, das klang nachvollziehbar.
„Dann gibt es doch nichts zu überlegen, auf nach rechts?“
„Riech noch mal“, forderte Toby mich auf. Seine Schnauze wies auf die Stelle von vorhin, die nach Schrank roch und auf eine Stelle einen Meter entfernt, in der Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich befolgte die Anweisung. Schnüffelte intensiv an den beiden Stellen. Versuchte, die aktuellen Spuren auszublenden. Doch meine Nase war voll, meine Gedanken rasten, ich roch alles und nichts zugleich. „Schrankgeruch“, flüsterte ich mir zu. „Teergeruch.“ Ich wollte vor Toby nicht versagen, doch ich kam nicht weiter.
Nun waren auch die Zweibeiner bei uns angekommen.
„Was ist denn los mit den Hunden?“, fragte Sherlock mit scharfer Stimme. Und machte mich noch nervöser. Toby hatte sich gedankenversunken an die Mauer zurückgezogen, schien seine Eindrücke in Ruhe verarbeiten zu wollen. Noch einmal, um die Spannung aus der Situation zu nehmen, schnüffelte ich links und rechts und rechts und links.
„Und jetzt?“, fragte ich unsicher.
„Weiter!“, rief Herrchen ungeduldig. Ich blickte mich um und versuchte mich klein zu machen, damit er sich nicht über mich ärgerte. Aber ich wusste nicht, was zu tun war.
Und so plötzlich, als wäre ihm eine Fliege zu nah ans Nasenloch herangeflogen, sprang Toby auf und lief los, in seinem typischen, schnüffelorientierten Gang., nach rechts, der Schrankspur nach, und ich hinterher. Ich wollte nicht bei den langsamen Zweibeinern bleiben, wenn ich an Tobys Seite ein Abenteuer erleben konnte. Als ich ihn eingeholt hatte, fragte ich keuchend, wie er die Entscheidung getroffen hatte.
Mit dem ruhigen Atem eines Ausdauerläufers antwortete er:
„Nun – das Taschentuch, das mir hingehalten wurde, enthielt Kreosot in einer sehr hohen Konzentration. Also ist es das, was der Rudelführer sucht. Die andere Spur war zwar wie die alte Spur mit dem Geruch eines bestimmten Zweibeiners verbunden, aber wenn es dem Rudelführer darum gegangen wäre, diesen Zweibeiner zu finden, hätte er mir doch dessen Spur auf dem Boden präsentiert. Er hat mir aber das mit diesem Stoff getränktes Taschentuch vor die Nase gehalten. Es geht ihm somit um das Kreosot. Also auf nach rechts.“
Ich war nicht überzeugt, meiner bisherigen Erfahrung mit Rudelführer und Herrchen nach waren sie immer mehr daran interessiert, bestimmte Menschen zu finden oder mit ihnen zu interagieren. Übermäßiges Interesse an Kreosot konnte ich bisher nicht feststellen. Doch wer war ich, etwas gegen den extra für diese Aufgabe engagierten Super-Schnüffler einzuwenden. Also folgte ich ihm, und auch Rudelführer und Herrchen liefen hinterher. Es war bestimmt der richtige Weg. Die Straßen wurden dreckiger, die Häuserfassaden dunkler, abgeblättert, Müll, Essensreste und noch Schlimmeres bedeckten den Boden. Ratten – schon wieder! Ich hörte und roch sie überall.
Toby dagegen lief unbeeindruckt von jeglicher Gefahr der Spur hinterher. Und auch die Menschen, die uns mittlerweile eingeholt hatten, schienen keine Angst zu haben. Ich hatte mich etwas zurückfallen lassen, zwischen die beiden Zweibeiner, da die Ratten sich nur selten auf Menschen stürzten. Und da Toby mir zwar als guter Schnüffler, aber nicht als erfahrener Straßenhund mit all den richtigen, ehrlosen Kampfgriffen erschien. Unzählige kleine Knopfaugen waren auf uns gerichtet, das spürte ich genau. Das hier war ihr Revier. Ängstlich lief ich weiter.
„Was sollte Small hier mit dem Schatz wollen?“ keuchte Herrchen zum Rudelführer.
„Nun, hier gibt es viele Lagerhallen, und hier in der Gegend stellt niemand Fragen...“ antwortete er.
Wir liefen weiter. Plötzlich bog Toby ab, in einen Hinterhof. Nun wurde es spannend, hier musste der Schatz sein, das Lager, vielleicht auch der Mörder. Toby verlangsamte seinen Schritt nicht, er rannte weiter. Die Zweibeiner hinterher. Ich blieb stehen, blickte mich um. Mir war nicht wohl dabei, das könnte eine Falle sein. Immer noch fühlte ich mich beobachtet. Doch gerade deshalb lief ich auch in den Hof – alleine sein war noch schlimmer.
Ich bog um die Ecke und rannte in eine unerwartete Szene: An der Hauswand stand ein Holzfass, voll mit Kreosot – das roch sogar ich. Daneben Rudelführer, der laut auflachte. Herrchen schaute ihn ungläubig an. Wir sahen ihn nicht oft lachen. Toby stand verloren mitten auf dem Hof. Sein Selbstbewusstsein schien ihn verlassen zu haben, er sah kleiner aus, sein Blick schweifte unsicher zwischen Sherlock und Fässern hin und her. Mein Auftritt.
„Du hast das Fass entdeckt! Die hohe Kreosot-Konzentration, genau das, was du bei dem Pub vorhin entschieden hast. Ich bin beeindruckt, kein anderer Hund hätte die Spur durch ganz London verfolgen können!“
Toby schaute von unten zu mir auf, mit großen, traurigen Hundeaugen. Was Zweibeiner nicht wussten: Dieser Blick funktionierte auch unter Hunden. Ich verstand. Das ist das Gute unter Artgenossen, wir brauchen keine Worte, um zu verstehen. Toby hatte nur diese gelegentlichen Ausflüge. Nur diese seltenen Triumphe aufgrund seines Geruchsinns.
Sein Leben war nicht wie meines, mit einer liebevollen Misses H, die mich hätschelte und fütterte, einem loyalen Herrchen und Abenteuer liefernden Rudelführer. Toby lebte in der Hölle. An seinem Fell und seinen Bewegungen erkannte ich, dass er dort auf engstem Raum eingesperrt sein musste. Ihn tätschelte dort sicher niemand auf den Kopf, sein Bauch wurde nicht gekrault. Er war nur für einen kurzen Moment der „beste Hund Londons“, weil er genau das erschnüffeln konnte, was der Rudelführer brauchte. Und nun schien ihm auch noch dieser Moment zu entgleiten. Er hatte versagt.
„Aber – wieso lacht der Rudelführer mich dann aus?“
Ich verdrehte abfällig die Augen.
„Zweibeiner! Was verstehen die schon. Er hat dir keine klare Aufgabe gegeben und nun wundert er sich, dass du nicht Gedanken lesen kannst. Aber das ist doch alles kein Problem. Erinnerst du dich an die zweite Spur vorhin?“
Nun bejahte er eifrig, froh um die klare Frage, um die Ablenkung vom lachenden Rudelführer.
„Schaffst du es sogar jetzt noch, die zweite Spur zu verfolgen?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
Er legte bereits eifrig die Ohren an, die Schnauze war schon wieder gegen Boden gerichtet, auf die Spur, die uns erneut zum Pub führen würde.
„Natürlich!“ Toby war zurück in seinem Element.
„Dann los, die Zweibeiner werden schon hinterherkommen.“
Toby und ich machten uns auf den Weg, den Wind im Fell, die Straße unter den Pfoten. Ich fühlte mich frei und stark. Heute führte nicht Herrchen mich. Wir führten die beiden unsensiblen Menschen, und korrigierten ihre Fehler. Die beiden keuchten uns hinterher, und ehrlich gesagt keuchte ich immer mehr. Nur der „beste Schnüffler-Hund Londons“ schien über seiner neuen Aufgabe zu vergessen, wie anstrengend die Rennerei durch die Straßen der Stadt war.
Die zweite Spur war schnell wieder entdeckt, und ohne Zögern folgte Toby nun dem Menschen, den die Zweibeiner wohl eigentlich jagen wollten.
Nach einigen hundert Metern fanden wir uns in der Nähe der Themse wieder. Nun brauchte Toby länger, das über die Ufer tretende Wasser schwächte die Spur, er musste immer mal wieder hierhin und dorthin laufen, bis er sie erneut aufnehmen konnte. Doch es gelang ihm jedes Mal. Ich war stolz darauf, diesen begabten Schnüffler zu begleiten.
Dann endete die Spur, am Ufer, an einem Stand mit mehreren Barken. Toby blickte sich unsicher um. Fast verängstigt sah er aus, zugleich hoffnungsvoll, dieses Mal richtig zu liegen. Rudelführer ging zu ihm und tätschelte seinen Kopf.
„Gut gemacht.“ Und schon strahlte Toby vor Stolz wie eine auf ‚hell‘ gestellte Gaslampe. Doch uns blieb keine Zeit, den Ruhm auszukosten. Denn die Zweibeiner sprangen sofort in eine der Barken, Herrchen hob mich hinein und Toby sprang ebenfalls hinterher. Bevor ich es wirklich begriff, waren wir schon losgerudert.
Panik überflutete mich. Wasser! Ratten!
Atemlos schloss ich die Augen. Doch das machte es nicht besser. Bilder prasselten auf meinen Geist ein. Bilder aus längst vergangenen Zeiten. Ganz klein war ich, alles war beängstigend und bedrohlich, die Gerüche so fremd, die Geräusche so laut. Meine Mama war weg, so plötzlich, ich wusste nicht wie mir geschah. Ich hatte so lange nichts gegessen, nur das dreckige Wasser der Themse getrunken, und war ganz allein auf der Welt. Meine Beine trugen mich noch nicht. Da, die Rettung: Als ich gerade am Ufer der Themse etwas Wasser in mich hinein schlapperte, trieb ein undefinierbares Etwas nahe an meinem Maul vorbei. Undefinierbar, doch es roch nach Essen. Ich schnappte danach. Daneben. Aber so schnell gab ich nicht auf, ich schnappte erneut. Und dieses Mal erwischte ich den Happen. Ohne darüber nachzudenken, was ich da wohl erwischt hatte – ach, ich war so klein, ich konnte noch gar nicht denken – schluckte ich, ohne zu kauen. Verschluckte mich, schnappte nach Luft. Doch ich hatte endlich etwas im Magen, ein kleiner Bissen, der mich über die nächsten Stunden retten würde. Bis dahin musste doch Mama zurück sein!
Doch es war meine Mama, die einige Sekunden später vor mir stand. Es war eine Ratte. Das wusste ich damals noch nicht. Damals war es ein kleines, aufgeblähtes Wesen mit kurzem Fell und nacktem Schwanz und komischen Schneidezähnen. Und bösem Blick. Dem bösesten Blick, den ich bis dahin gesehen hatte. Einem Blick, den ich nie wieder vergessen würde.
„Der Fluss, und alles, was darin schwimmt, gehört uns“, zischte das Wesen. Und ohne weitere Worte wurde ich von hinten gepackt und zwei andere der Wesen hielten mich mit Vorderpfoten und Schneidezähnen fest, schleiften mich ins Wasser, so weit, dass meine Beine den Halt verloren, und: ließen los. Einfach so, völlig unaufgeregt.
Natürlich konnte ich nicht schwimmen, ich konnte ja nicht einmal alleine laufen. Ich ging unter. Wie ein Sack Steine. Meine Beine reagierten von selbst, strampelten, und machten es nur schlimmer. Schon nach Sekunden war ich völlig erschöpft. Meine Muskeln gaben auf. Meine Seele ebenfalls.
So klein ich war, verstand ich: Das war das Ende. Zumindest hatte ich ein letztes Mal etwas fressen dürfen, dachte ich noch. Dann schloss ich die Augen und ließ los.
In dem Moment packte mich ein fester Griff im Nacken. Mama? Vor Glück kamen mir die Tränen. Doch schon bald erkannte ich: Es war nicht Mama. Ein Zweibeiner hatte mich gepackt, ich passte fast in seine Pfote. Mit den anderen Pfoten verjagte er die Ratten am Ufer. Dann blickte er mich besorgt an und drückte mich an seinen Körper, wickelte mich ein und flüsterte mir etwas mit sanfter Stimme zu. Damals verstand ich ihn noch nicht, doch ab diesem Moment wusste ich, was dann zur Realität wurde: Dieser Zweibeiner würde von nun an mein Zuhause sein. Mein Herrchen. Meine Welt.
Doch Wasser hasste ich immer noch. Ich lief um jede Pfütze herum, ließ mich nur unter Protest sauber machen und passte sogar beim Trinken auf, mich nicht voll zu schlabbern.
Und nun saß ich in einer Barke mitten auf der Themse! Ich zitterte am ganzen Körper und konnte kaum denken. Das kleine Boot wackelte in der Dunkelheit, die Wellen schlugen an den Bug. Nur noch einige Meter trennten uns vom Feind. Unser Gegner brüllte Unverständliches in den Wind. Die zweibeinigen Mitglieder unseres Rudels ruderten schweigend, versuchten, uns so nah wie möglich an das Boot des Bösen zu manövrieren. Ich war damit beschäftigt, meinen Mageninhalt bei mir zu behalten. Vor allem aber damit, meine Panik zu unterdrücken. Moriratty durfte mich nicht erneut bezwingen.
Fast hatten wir das Boot erreicht.
Dann stand der Gegner auf. Ich sah, wie er eine Kiste anhob. In der anderen Hand hatte er eine Kette. Ich hatte sie schon gesehen – sie gehörte Mary. Mit den Eheringen ihrer Eltern, hatte sie uns erzählt. Weich war ihre Stimme dabei geworden, es war wohl ihre letzte Erinnerung an sie.
Laut lachend ließ er beides hin und her schwingen. Herrchen war so weiß wie einer der Knochen, die mir Misses H manchmal heimlich unter den Tisch schob.
„Nein!“ schrie er, lauter als ich ihn jemals gehört hatte.
„Und jetzt müsst ihr entscheiden, ihr Versager!“ brüllte der Feind in unsere Richtung, schob die gesamte Kiste von Bord, und warf die Kette weit von sich in die Mitte des Flusses. Dann paddelte er so schnell wie möglich davon.
Rudelführer blickte Toby und mich an.
„Springt! Rettet den Schatz!“
Ich konnte mich nicht bewegen. Jeder meiner Muskeln war erstarrt. Ich konnte nicht folgen, das erste Mal konnte ich einem Befehl von Rudelführer nicht folgen! Es ging nicht.
„Gladstone kann nicht schwimmen!“, schrie Watson.
„Toby schafft das. Wir müssen weiter, Small schnappen. Wir würden in dem dreckigen Wasser ohnehin nichts sehen.“ Toby stand schon am Rand der Barke und richtete sich aus, in die Richtung, in die der Feind die Kiste geworfen hatte. Ich dachte an den Schrei, den Herrchen ausgestoßen hatte. Diesen verzweifelten, aller Hoffnung beraubten Schrei.
„Die Kette, Toby! Das ist der Schatz!“ rief ich ihm zu.
Toby zögerte.
„Glaub mir. Rette die Erinnerungen“, versicherte ich ihm. Er sprang in das dreckige Wasser. Ich wusste, dass ich eigentlich hinterher springen sollte, versuchen, die Kiste zu retten. Doch mein Körper versagte es mir. Ich war wie versteinert. Mein schlechtes Gewissen überwältigte mich. Ich hatte einen Befehl verweigert, was für einen Zweck hatte mein Hundeleben dann noch. In dem Moment tauchte Toby wieder auf, das Medaillon in der Schnauze. Er schwamm neben der Barke her, unbeeindruckt von dem Müll und den Ausscheidungen, die an ihm vorbeiflossen.
Rudelführer und Herrchen bemerkten ihn noch gar nicht, sie hatten den Feind eingeholt. Herrchen versuchte unsere Barke auszubalancieren, Rudelführer sprang über den Rand der Barke in das andere Boot, riss den Feind zu Boden und schlug fest mit der Faust zu. Der Feind blieb liegen. Sherlock gelang es, das Boot zu stabilisieren und es zu unserem Boot heran zu ziehen. Dann blickte er zu Toby, der immer noch neben uns schwamm. Er lachte zum zweiten Mal an diesem denkwürdigen Tag und rief zu Herrchen:
„Wissen Sie, was das heißt, Dr. Watson? Sie können der jungen Dame einen Antrag machen, und mit diesem Brautgeschenk wird sie zustimmen. Wer braucht schon das größte Erbe Londons, wenn er Liebe haben kann.“ Er schien ironisch klingen zu wollen, aber schaffte es nicht. Vielmehr schien er sich wirklich für Herrchen zu freuen.
Auch Herrchen blickte nun zu Toby. Und dann zu mir. Er schien zu ahnen, wie Toby seine Entscheidung getroffen hatte. Nachdem er den anderen Hund unter großer Anstrengung zurück ins Boot gehoben, ihm seinen Mantel umgelegt und ihn getätschelt hatte, ihm sogar ein Stück Wurst aus seiner Tasche gegeben hatte, wandte er sich zu mir. Er setzte sich neben mich auf den Boden und legte seinen Arm um mich. Sein Kopf lehnte an meinem und er flüsterte mir ins Ohr:
„Gladstone, egal was irgendjemand sagt: Du bist der beste Hund. Nicht nur von London. Der beste der ganzen Welt.“
Ich kann nicht sagen, ob das stimmt oder warum er das gesagt hat. Aber was ich sagen kann: In dem Moment war ich ganz sicher der glücklichste Hund auf der ganzen Welt.
Epilog
Zufrieden saß Moriratty auf dem Berg Goldmünzen und bewunderte den strahlenden Glanz. Er wusste nicht, was man damit tun oder erreichen konnte. Das Gold nutzte ihm nichts. Doch die Macht des Goldes fesselte ihn trotzdem, ließ ihn erstarren, wenn er darüberstrich, ließ ihn in unbeschreibbare Wut verfallen, wenn jemand anders einer Münze zu nahe kam. Doch die Ratten wussten es besser, niemand wagte es, ihren Chef zu verärgern. Neben den Münzen kauerte Sebastardian im Schatten der Höhle.
„Was wäre passiert, wenn die Köter versucht hätten, den Schatz zu bergen?“ fragte Sebastardian. Moriratty lächelte böse, das einzige Lächeln, das er kannte. Er erinnerte sich an sein Zusammentreffen mit Gladstone und die arroganten Zweibeiner. Dachte an seine Ratten-Armee, die im Schatten der Brücke darauf gewartet hatte, den Schatz zu erobern.
„Der hochnäsige Lurcher und der kleine Faltenkloß wären diesmal nicht mehr aufgetaucht. Jedenfalls nicht lebend.“
Sein schrilles Lachen war in den Rattengängen Londons noch kilometerweit zu hören und ließ seine nacktschwänzigen Untertanen und seine Feinde erschauern.