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An elderly woman sitting at the table. Black and white photo..jpg

Ein Kavalier der neuen Schule

Noch eine Station! Jan ist wieder zu spät. Madita wollte erst ihre Jacke nicht anziehen, dann fand sie ihre Strumpfhose doof und wollte lieber die mit den Punkten, dann hatten sie das Pausenbrot auf dem Küchentisch liegen lassen und mussten noch mal zurück. Als er sie endlich im Kindergarten abgesetzt hatte, war es 8.40 Uhr. Die Zwischenschicht beginnt um 9 Uhr. Nicht zu schaffen.

Er rennt zur Straßenbahn, lässt sich hektisch auf einen Platz fallen und zappelt bei jedem Halt ungeduldig mit den Beinen. Wieso können sich die Leute denn nicht beeilen beim Ein- und Aussteigen, verdammt. Gefühlt muss die Bahn an jeder Kreuzung warten.

Um sich abzulenken, schlägt er das Buch auf, das ihm seine Frau gestern Abend in die Hand gedrückt hat: Weisheiten starker Frauen. Seit sie gemeinsam versuchen, eine Tochter zu erziehen, weist sie ihn regelmäßig auf die Erfahrungen von Frauen in verschiedenen Lebensbereichen hin, und auf gute feministische Literatur dazu. Er findet sich selbst ja schon recht feministisch. Seit Maditas Geburt sprechen sie über nichts anderes als wer welche Aufgabe übernimmt. Er blättert im Buch, kann sich aber nicht konzentrieren.

Was mal aus ihr wird, aus Madita? Welche Entscheidungen sie treffen wird für ihr Leben?

„Jeder Mensch hat die gleiche Würde. Aber nicht jeder Mensch hat die gleichen Chancen“, zitiert das Buch Gesine Schwan. Er nickt und blättert weiter, durch die Porträts von Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Physikerinnen, Medizinerinnen. Tolle Frauen. Auch er ist stolz auf seine Frau, erfolgreiche Gründerin und Leiterin einer privaten Rundum-Versorgung wohlhabender Senioren, die so lange wie möglich Zuhause leben wollen. Er würde sie gerne mehr entlasten. Seinen Job aufgeben? Für sie arbeiten? Das kann er sich nicht vorstellen. Obwohl Nina bei ihren Gartenparties nicht gerne erzählt, dass sie „nur“ mit einem Pfleger verheiratet ist. In solchen Momenten fällt Jan ein Spruch seiner Mutter ein: „Wenn man sich für den anderen schämt, ist das der Anfang vom Ende der Beziehung.“ Nein, so schlimm war es bei Ihnen nicht.

„Ping“ macht es von der Decke des Bahnwagens. Seine Station! Schnell zwängt er sich durch die Menschentraube vor der Tür. Die letzten Meter rennt er. „Seniorenresidenz am Dom“, seit drei Wochen seine neue Arbeitsstätte. Hier geht es entspannter zu als in der Nordstadt, er ist froh um diesen Wechsel. Noch einmal darf er wirklich nicht zu spät kommen, er ist in der Probezeit!

Die leitende Pflegerin erwischt ihn im Umkleideraum. Es gibt nur einen Raum, Frauen haben hier Zugang – er ist auch der einzige Mann. Schnell zieht er die Hose hoch und lächelt sie verlegen an. Doch Frau Bader interessiert sich nicht für seine Comic-Boxershorts.

„Jan, das ist jetzt das zweite Mal in dieser Woche! Nochmal, dann muss ich das melden. Mensch, du machst deine Arbeit so toll. Du willst doch nicht wegen Verspätungen wieder gehen müssen?“

Beflissen stimmt er ihr zu. Ihm ist das sehr unangenehm. Liegen die Verspätungen daran, dass er nichts auf die Reihe bekommt, wie Nina ihm oft vorwirft? Er will den Job nicht verlieren, trotz Pflegemangels sind Stellen in den gepflegten Heimen, in denen man sich für die Bewohner noch Zeit nehmen kann, eine Rarität. Die Kolleginnen sind nett, die Bewohner gebildet, höflich, und bis zur einsetzenden Altersdemenz interessante Gesprächspartner.

„Jetzt mach los. Geh zu der Neuen in der 42, die heute angekommen ist. Sie hat schon mehrmals geklingelt.“ Er sputet sich. Jetzt bloß alles richtig machen!

Noch während des Anklopfens betritt er die Räumlichkeiten, nach einem Klingeln warten sie nicht auf das „Herein“. Sein geübter Blick sieht die Lache sofort. Unter dem Rollstuhl der Dame hat sich eine Pfütze gebildet, die sich in Zeitlupe auf dem pflegeleichten Linoleum ausbreitet. Der hässliche Boden, der so gar nicht in die noble Umgebung passt, ist ein Zugeständnis an die Hygienestandards. In solchen Momenten ist er dankbar dafür.

„Guten Tag.“ Er lächelt sie an. „Alles kein Problem, regeln wir gleich.“

Schnell geht er in das Badezimmer, holt ein paar Papiertücher, wirft sie auf den kleinen See. In Sekundenschnelle verfärben sie sich gelblich. Die neue Bewohnerin der Residenz schaut peinlich berührt aus dem Fenster, will nichts zu tun haben mit dem Unglück. Ihr Gesicht ist von Schamesröte überzogen. Der Himmel ist auch kein schönerer Anblick als der Linoleumboden, tiefgrau und unbeweglich stülpt er sich über die Stadt.

Ohne zu zögern zieht er ihr die Schuhe aus, die Nylonstrumpfhose, den Rock – die teure Marke kennt er von seiner Frau – die Unterhose. Der Rock erinnert ihn an Ninas Shoppingverhalten. Er findet es dekadent, dass manche Dinge, die sich seine Frau gönnt, mehr kosten als er in einer Woche verdient.

Im Bad wirft er die eingenässte Kleidung in den Wäscheeimer und läuft mit einem nassen Waschlappen zurück. Behutsam säubert er die Frau, die immer noch verzweifelt versucht, weder ihn noch sich selbst anzusehen.

„Schon wieder gut“, redet er beruhigend auf sie ein, wie bei Madita, wenn sie es während der Windelentwöhnung nicht rechtzeitig aufs Klo geschafft hat. „Alles halb so wild.“

Die Frau stößt ein leises Schnauben aus, schaut immer noch weg. Er erhebt sich, sucht im Zimmer nach frischer Kleidung. An der Wand, vor der Seidentapete, stehen zahlreiche Umzugskartons. Die Schubladen sind noch leer. Sie muss gerade angekommen sein.

„Entschuldigen Sie, Frau …“ Verdammt, er hat vergessen, vorher auf das Namensschild am Eingang zu schauen, dabei  gehört es zu den wichtigsten Regeln in dieser Residenz, alle Bewohner mit Namen anzusprechen. Zu spät. „Ich muss erst Ihre Kleidung suchen.“ Er wendet sich schon wieder ab und beginnt, die Beschriftungen zu entziffern. Da hört er sie grummeln und stöhnen. Er dreht sich um.

Die alte Dame sieht aus wie eines der Bilder aus Maditas Büchlein, bei denen sie die verschiedenen Hälften von Tieren miteinander kombinierte, so dass möglichst wenig zusammen passte: Die obere Hälfte wie aus dem Ei gepellt, mit ihren perfekt ondulierten grauen Haaren, Perlenkettchen und Fingern mit teuren Ringen, auch die blendend weiße Bluse und das pastellfarbene Strickjäckchen aus Kaschmir strahlen Stil und Reichtum aus. Die untere Hälfte sitzt nackt auf der schwarzen Plastik-Sitzfläche des Rollstuhls, der Hintern faltig und schwabbelig, die durchscheinend blassen Beine mit Krampfadern überzogen, die Fersen voller aufgeplatzter Hornhaut, die Fußnägel viel zu lang, dick verwachsen und tiefgelb. Sie hat bisher allein gewohnt und sich um sich selbst gekümmert, an die Füße konnte sie nicht mehr heran kommen. Ohne ein Wort zu sagen, nur ächzend und seufzend, zeigt sie auf ihre nackte Scham. Kann sie nicht mehr sprechen? Ist sie dement? Er weiß noch nichts über die neue Bewohnerin. Doch ein Blick in ihr Gesicht, auf ihre krampfhaft zusammengepressten Lippen und ihre verkniffenen Augen verrät ihm den Grund: Sie schluckt, kämpft mit den Tränen. Er nickt ihr aufmunternd zu, läuft noch einmal ins Bad und deckt sie zumindest mit einem Handtuch zu.

„Ich bin gleich wieder da, ja? Ich hole Ihnen einen ganz schicken Schlüppi, Sie werden schon sehen!“

Jan eilt ins Erdgeschoss und sucht im Lagerraum nach Einmalunterhosen. Noch kennt er sich nicht gut aus, es dauert einige Minuten, bis er fündig wird. Zügig geht er mit einem Stapel Einwegunterhosen und Einlagen zurück, öffnet die Tür mit dem Ellbogen und stapelt sie erst einmal auf dem Boden, vor dem geräumigen, eleganten Kleiderschrank. Er schnappt sich eine der Netzhosen und läuft zu der Frau, die immer noch genauso sitzt wie vorher, starr, wie eingefroren. Ihr Gesicht ist grau, ihr Blick leer. Die Tränen sind aus den Augen verschwunden. Er zieht ihr die Unterhose an, mit Einlage gegen die Inkontinenz. Schön ist was anderes, doch da schaut ja auch niemand hin. Sie hilft nicht mit.

Nun hat er etwas mehr Zeit und sucht in den Kartons nach Wäsche und einem Rock und tatsächlich, er findet eine Strumpfhose, außerdem einen Rock in einer ähnlichen Farbe wie die Strickjacke.

„Schauen Sie mal, was wir da haben! Das ziehen wir uns doch schnell mal an, dann fühlen wir uns bestimmt besser!“, lächelt er die Dame an. Nun schaut sie doch zu ihm, hebt eine Augenbraue an, nur ganz wenig.

„Wir?“, fragt sie, leise, fast flüsternd. Sie kann also sprechen. Er zuckt mit den Schultern und rollt die Strumpfhose auf bis zu den Füßen, um sie ihr über die Beine zu ziehen. Dabei denkt er daran, wie Nina sich morgens ein Hauch von Nichts über ihre langen, muskulösen Beine zieht. Früher fand er das sehr sexy. Abgelenkt zieht er den Strumpf zu schnell hoch und bleibt an einem ihrer Zehennägel hängen. Beide beobachten, wie in Zeitlupe eine Laufmasche durch das Nylon wandert.

„Nun passen Sie doch auf, Sie ungeschickte… Person!“, ruft sie.

Was soll denn das? Er verdreht die Augen, öffnet den Mund und will etwas erwidern. Da fällt ihm ein: Probezeit! Zu-Spät-Kommen! Außerdem hat er Mitschuld. In dem Moment erkennt er an ihrem gesenkten Blick, dass sie sich für den Ausraster schämt, und ist froh über sein Zögern.

„Na, meine Gute. Das war nicht so einfach mit Ihrem Nagel. Aber ist doch halb so wild, ich hole ein anderes Paar. Und morgen kaufe ich Ihnen neue. Dann gibt es halt eine Woche nur Wasser und Brot“, versucht er die Situation durch einen kindischen Scherz aufzulockern. Doch das funktioniert nicht. Die alte Frau dreht den Kopf erneut zur Seite und kämpft wieder mit den Tränen, schluckt sie aber erneut runter. 

Den Rock zieht er ohne weitere Zwischenfälle an und setzt sie dann wieder im Rollstuhl ab.

„So, haben wir es doch schon geschafft. Richtig hübsch sehen Sie jetzt wieder aus!“

Die alte Frau reagiert mit verächtlichem Schnauben.

„Da bin ich beruhigt. Nichts scheint mir in diesem Augenblick bedeutsamer, als hübsch auszusehen.“ Sie schüttelt den Kopf.

„Ach, Sie werden sehen, mit der Zeit kriegen wir das hin. Jetzt kommen Sie erst einmal in Ruhe hier an und wenn die Kartons ausgepackt sind, geht es Ihnen bald besser. In einer Stunde ist im Gemeinschaftsraum Bingo, und danach direkt Kaffeeklatsch. Da können Sie gleich alle verbleibenden Kavaliere kennenlernen! So finden Sie vielleicht Anschluss - ein wenig männliche Unterstützung kann doch auch nicht schaden, oder? Wäre das nicht was?“

Nun lacht sie, amüsiert, mit einer Prise Zynismus. Ihr Blick bleibt traurig, aber in den Augen sieht er ein Funkeln.

„Schon gut, Herr Dix.“ Anders als er hat sie sein Namensschild auf dem Oberhemd gelesen. „Wenn die Dame jetzt alleine sein dürfte?“ Schon wieder schaut sie gedankenverloren aus dem Fenster. Getroffen verlässt er den Raum. Er kann doch nichts dafür. Mit der Hand wischt er sich über das Gesicht, über die müden Augen. Verdammt, so will er doch nicht sein.

Im Vorbeigehen schaut er nun doch auf das Namensschild. Antonia Burgdorf. Der Name kommt ihm bekannt vor. Hat die Oberpflegerin ihn gestern erwähnt? Dann fällt es ihm ein: Das Buch von heute Morgen! Da war sie aufgelistet, er erinnert sich an das Schwarz-Weiß-Bild einer jungen Frau mit dunklen, elegant gewellten Haaren. Wofür stand sie in dem Buch? Schnell läuft er in den Umkleideraum, öffnet seinen Spind und zieht es heraus. Aufgeregt blättert er, bis er das Foto wiederfindet.

„Bedeutende Kämpferin für Frauenrechte“ steht da. Berührt schlägt er das Buch zu und schiebt es wieder in den Spind. Er seufzt.

Kämpferin. Das war einmal.

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