...und täglich grüßt das Hundetier
Loki scharwenzelt auf dem Balkon herum, schnüffelt in Ecken, kaut an Ästen, beobachtet Vögel und Eichhörnchen. Ich schaue ihm vom Wintergarten aus zu. Auf einmal sehe ich, dass er dramatisch humpelt und immer wieder an seiner Pfote schleckt. Ein Faden zieht sich vom Maul zur Tatze: Ein Kaugummi!
Neugierig kaut der Entdecker daran herum. Etwas so Klebriges hatte er noch nie im Maul! Tausend Mal interessanter als Nylonstrümpfe oder Lederschuhe!
Ich dagegen: Panikmodus. Süßstoff! Pures Gift! Vor allem bei einem Drei-Kilo-Hund! Und dann auch noch an der rechten Vorderpfote, da ist er doch am kitzligsten. Allein kriege ich den Kaugummi niemals weg!
Für noch stärkere Verunsicherung befrage ich das Internet. Ja, Süßstoff ist giftig für Hunde. Tipps für Kaugummi-Entfernen? Gefriertruhe? Nein, fällt hier weg. Was tun?
Elias anrufen.
„Kann ich fertig essen? Halbe Stunde.“
Ok, er muss nicht auch gleich in Panikmodus verfallen. Aber eine halbe Stunde heißt bei ihm: eine Stunde oder mehr. Argh! Ich darf heute wegen Magenspiegelung in Narkose nicht Autofahren. Mit Taxi zum Tierarzt? Zu Fuß laufen, mit Kaugummi an der Pfote? Loki im Rucksack? Zu protzig, zu umständlich, zu panisch. Ihm das Fertig-Essen verbieten? Zu riskant: Er ist ein Exemplar, dem man besser aus dem Weg geht, wenn er hungrig ist. Snickers-Werbung verdächtig.
Dann erst mal verhindern, dass Loki an den Kaugummi kommt. Ich binde eins seiner Halstücher um die Pfote. Schon das gestaltet sich schwierig, die Beine bieten kaum Halt. Jeder Hühnerschenkel ist dicker.
Als Gegengift gegen das Internet: Tierarzt anrufen.
„Süßstoff ist giftig, aber nicht so dramatisch wie Schokolade. Hm… Loki wiegt ja nur drei Kilo. Apathisch ist er noch nicht? Oder überdreht? Können Sie es wegschneiden?“ Hilft doch nicht weiter.
Schlimmste aller Strafen: Warten. Auf Elias. Auf Apathie oder Sugar-Rush. Dafür muss man das aber erst mal vom normalen Verhalten unterscheiden können - Nervzwerg wechselt aber auch im Normalzustand permanent zwischen „Full Speed“ oder „Akku Leer“. Wer kennt es nicht, man wacht auf mit einer Magenverstimmung, googelt und schon hat man alle Symptome einer Salmonellenvergiftung. Beim Fellkind ist die Fehlinterpretation noch leichter, man kann sich Symptome ganz frei ausmalen!
Wenn etwa der „herabschauende Hund“ (wer die Yoga-Pose nicht kennt, sei an das Kinderlied erinnert: Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh‘; Wasser wahlweise ersetzen durch: Gras / Teppich / müffelnde Sockenberge) länger dauert als üblich, erinnert das sofort an die „Schmerzhaltung“.
Ich fremdhypochondere bei Loki schon immer. Noch extremer seit wir eine schlimmer werdende Lebensmittelunverträglichkeit erst spät entdeckten. Jetzt verdrehen Hundeelternbekanntschaften, Freunden, Familie und Tierarzt die Augen so oft so sehr, dass ich bei dem vielen Weiß, das ich da sehe, ich zur Sicherheit das Internet befragt habe, ob ihnen etwas passieren kann. Schließlich hat meine Oma uns früher immer gewarnt: Irgendwann bleibt das so! Übrigens: Es kann nichts passieren.
Der Tierarzt hat mir erklärt, wann Symptome auftreten müssten: nach 30-45 Minuten. Also sitze ich da und starre Loki an. 45 Minuten lang. Sonst wird er nervös, wenn ich ihn ein paar Minuten lang ignoriere. Jetzt aber nervt ihn mein inquisitorisches Starren. Er verkriecht sich unter dem Sofa, was mich erst recht Verdacht schöpfen lässt. Ein Teufelskreis von Beobachten und Verkriechen – Teenager-Eltern kennen es. Doch ich habe eine Geheimwaffe, die man gegen Teenager aufgrund deren Fähigkeiten, sich selbst zum Kühlschrank zu bewegen, nicht hat: Leckerli! Schon kriecht er unter dem Sofa hervor und rennt schwanzwedelnd auf mich zu. Naja, auf die Leckerli.
Er wirkt fit. Trotzdem kann Flüssigkeit nicht schaden. Das Gift verdünnen! Bei Durchfall kriegt er Wasser mit einer großen Spritze eingeflößt. Doch ich mache einen Fehler: Ich verstecke das Tatwerkzeug nicht. Wie auf einem „Sugar-Rush“düst Loki erneut unter das Sofa, und dieses Mal helfen keine Leckerli. Ich lege mich auf den Boden und beobachte weiter. Er ignoriert mich und die Spritze und zupoft am provisorischen Tuch-Verband herum. Irgendwann schaut er doch mal zu mir rüber. Ätsch, sagt sein Blick.
Ohne brauchbare Idee stehe ich seufzend auf. Mit jedem Lebensjahr mache ich mehr Geräusche dabei. Ich verlasse das Wohnzimmer und setze mich an den Schreibtisch. Wenn ich lange genug im anderen Zimmer bin, kommt Loki irgendwann vorbei. Doch heute lässt er mich zappeln. Also recherchiere ich weiter über die Gefahren einer Süßstoff-Vergiftung für Hunde. Sehr hilfreich, wie man sich denken kann.
Endlich, Elias. Der Schlüssel steckt noch nicht einmal im Schloss, da ist Loki schon los gefetzt und wartet bellend und fiepend auf das Rudelmitglied. Elias schaut mich fragend an:
„Naja - krank wirkt er aber nicht?“
„Nein, ich glaube auch nicht, dass er eine Vergiftung hat. Er hat aber noch den Kaugummi in der Pfote, den müssen wir wegschneiden.“
Elias grinst über den provisorischen Verband, der inzwischen hinter Loki her schleift.
„Na komm her, kleiner Spinner“, lockt er und nimmt ihn auf den Arm. Er wickelt das Tuch ab und untersucht die Pfote. Bei Elias hält Loki still und lässt die Untersuchung über sich ergehen.
„Oh, da ist ja viel Kau-Kau drin, was hast du nur wieder angestellt, du Kleiner?“ Sogar Elias Stimme wird höher, wenn er mit Loki spricht.
Nach dieser überaus differenzierten Diagnose beschließen wir, die Operation im Badezimmer durchzuführen. Loki merkt, dass ihm etwas Unangenehmes droht und zappelt nun, trotz Elias Arm, hat aber keine Chance. Wir schließen die Tür und Elias setzt Loki ab. Der sieht die geschlossene Tür, schaut uns zutiefst beleidigt an und fügt sich in sein Schicksal. Während ich ihn fest halte, schnippelt Elias mit der kleinen Haarschere in der Pfote herum, sehr vorsichtig. Trotzdem denke ich schon wieder darüber nach, was alles passieren kann und schaue lieber weg. Elias lacht mich aus. Loki dreht seinen Kopf zu mir.
„Wie könnt ihr mir das nur antun! Was habe ich Euch denn getan!?“ sagt der leidende, indignierte Blick.
Nach wenigen Sekunden sind die verklebten Haare entfernt. Nun geht es in den zweiten Ring der Hundehölle: Loki wird gebadet, wenn wir schon dabei sind. Sein Blick wird nicht gnädiger, im Gegenteil.
Nun ist Loki nass und beleidigt, versteckt sich – genau: unter dem Sofa.
Aber irgendwann ist alles vergessen, er ist trocken, unverklebt und lässt sich dazu herab, uns mit Schnüffel- und Jagdspielen zu beschäftigen. Schon bald brauchen wir eine Pause, ich hole Kaffee aus der Küche. Als ich zurück komme, spielt Elias auf dem Handy.
„Wo ist denn Loki?“ Er zuckt mit den Schultern.
Ahnungsvoll schleiche ich ins Bad. Ist wirklich alles vergessen? Nein, auch Loki schmeckt Rache am besten kalt. In der Hitze des Gefechts haben wir die weggeschnittenen Haare und die Kaugummireste nicht aufgekehrt. Und wer wälzt sich nun darin und verteilt jetzt den Kaugummi mit vollem Genuss auf dem Rest seines Körpers? Richtig: Loki. Was sagt sein Blick? Richtig: Ätsch.
Und täglich grüßt das Hundetier...!